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St. Anger oder warum uns Wut die Depression nicht spüren lässt


Die Kolumne für Intros von Janine erscheint einmal im Monat und gibt euch einen Einblick in das Gehirn eines introvertierten Menschen. Sie schreibt über ihre Wut, Depression und lässt nie Humor vermissen. Janine und ich haben uns bei unserer Coaching-Ausbildung kennengelernt und sind bis heute dankbar, dass zwei Weirdos zusammengefunden haben.

 

Das Gute an Wut ist, dass man die Depression nicht so spürt.
Die kommt dann erst hinterher.
Wut ist sowas wie ne Blendgranate. Vor allem sich selbst gegenüber.



Wenn der Rauch aber verzogen ist, dann kommt die ganze schneebedeckte Hundescheiße wieder zum Vorschein. Und die kann man meistens nicht gut aushalten und dann wird man sehr traurig. Wenn’s gut läuft. Wenn’s schlecht läuft, ist man nicht mal mehr traurig. Dann ist man kurz davor, sich aufzulösen. Zu Recht auch, denkt man in solchen Momenten.


Meine Wutpalette schillert in den schönsten Farben. Ich kann mich über alles, alles ärgern.

Ich gehe nicht gern zum Arzt. Das hat in erster Linie mit meiner Hypochondrie zu tun und damit, dass ich wieder sehr, sehr traurig werde, wenn ein Arzt irgendwas an mir so betrachtet, als wär’s das jetzt gewesen. Davon erhole ich mich wochenlang nicht. Also lieber nicht hingehen und natürlich auf keinen Fall googeln. Krankheiten googeln wirkt wie Brandbeschleuniger für die Hypochondrie. Das Hauptproblem mit der ärztlichen Versorgung beginnt bei mir allerdings schon bevor mir diese von sich selbst besoffene Gottheit überhaupt Zutritt in sein Behandlungszimmer gewährt. Nämlich im Wartezimmer.

Sofern man nicht umgehend anfängt auf’s Handy zu glotzen während man wartet, sieht man sich in aller Regel mit in Poco Domäne Bilderrahmen gepresster Scheiße konfrontiert. Da hängt dann sowas wie Kandinsky. Diese Kandinskys potenzieren meine ärztliche Beratungsresistenz bis ins Unendliche.

Was ich übrigens unglaublich nachvollziehbar finde und schon wieder wütend werde bei der Vorstellung, dass Andere das nicht verstehen. Wie kann man denn jemandem seine Gesundheit oder wie die Ärzte das gerne sehen, seine Krankheit anvertrauen, der sich diese Kinderkunst ins Wartezimmer hängt?

Der hat mich und mein ästhetisches Feingefühl ja schon beleidigt, noch bevor wir uns kennengelernt haben. Was denkt der denn von sich? Sowas wie: „Ich hab 27 Semester Menschen reparieren studiert und jeder der in meinem Wartezimmer sitzt, dem trau ich nicht mehr zu als Kandinsky?“ Really?


Ich lass mich hier nicht so dermaßen erniedrigen von dir du Affe, denke ich und wäge ab, ob ich doch lieber nachträglich unbezahlten Urlaub beantragen soll, statt mir hier einen Krankenschein zu holen. Viel schlimmer wäre ja fast die Vorstellung, dass das SEINEM Verständnis von Kunst entspricht. So jemandem kann man erst recht nicht trauen. Jemand der sich solche Scheußlichkeiten ins Wartezimmer hängt, der kann kein Interesse an Heilung haben. Dem ist einfach alles komplett egal.


Auch wirklich, wirklich ärgerlich ist die Musik in Frauenarztpraxen. Sollen Jack Johnsen und Katie Melua dazu beitragen, dass ich mich für die hiesige Thematik angemessen weiblich fühle, wenn ich diese bedeutungslose Zuckerwattescheiße hören muss? Ober denkt der Vorzimmer-DJ, dass es DAS ist, was Frauen so hören?

Dann bilde ich mir kurz ein, meine Vulva nicht verdient zu haben. Offensichtlich bin ich keine richtige Frau oder so.

Hier ist nur total der falsche Ort, um jetzt auch noch an der Geschlechteridentität zu zweifeln. Hier gehts schließlich nur um Eines.

Alles untenrum und das in 100 % weiblicher Ausführung. Gut. Ruhe bewahren. Man sieht mir jetzt ja nicht gleich an, dass ich Jack Johnson doof finde. Also ran an die vorvorvorvorletzte Ausgabe der Gala. Wobei das mit der Gala auch schon wieder so’n Ding ist. Ich 27 Semester Medizinstudium, du Galaleserin. Und wenn ich jetzt meinen Stuckrad-Barre-Shit zu Hause vergessen habe und stattdessen Insta checken muss, dann seh ich auch noch genauso unkultiviert und blöde aus, dass die Gala doch wieder zu mir passen würde. Absolute Frechheit, in was man hier hereinmanövriert wird. Dann kann man höchstens noch einfach dasitzen und aus dem Fenster glotzen, was der Hypochondrie nicht zuträglich ist. Dann steiger' ich mich gleich wieder rein in die Urinprobe und ob damit alles ok ist. Nix wie weg hier ey.


Neulich hat der Hersteller meines Haarsprays allen Ernstes die Farbe der Flasche und was noch viel krasser ist, den Duft verändert. Sag mal, haben die denn üüüüüüberhaupt keinen Respekt vor meinem geregelten Leben?

Mal ganz ehrlich: ich soll hier Tag ein Tag aus das Erwachsenending mitspielen: Kind um 7 Uhr in die Schule bringen, was es auf Dauer erforderlich macht, noch vor Mitternacht pennen zu gehen, Steuern bezahlen, Termine beim Zahnarzt machen, Urlaub im Harz wegen Corona und so und dann das? Was glauben die Haarsprayleute eigentlich wer sie sind? Was ist mit uns psychisch instabilen Menschen? Denken die mal daran, dass es ganz, ganz wichtig ist, wenn man mal wieder droht, sich aufzulösen, dass wenigstens das Haarspray riecht wie immer?


Wo kommt denn das alles her mit der Traurigkeit, also außer wenn es wirklich traurig ist, wie ertrinkende Menschen im Mittelmeer? Also wenn es nicht diese Art von Trauer ist, dann ist man doch wegen mangelndem Urvertrauen traurig. Wegen dem Vater, der an Säuferwahn starb und der Mutter, die die Empathie einer Luftpumpe besitzt. Da kann man sich unmöglich sicher fühlen, während man auch noch dieses Erwachsenending performen muss.

Danke für Nichts ihr Haarspraywichser!


Bis vor ein paar Jahren war ich oft so wütend und traurig abwechselnd, dass ich nach Rücksprache mit den Menschen die mit mir leben müssen dachte, es wäre jetzt mal wichtig, diese Wut loszuwerden.

So bin ich in einem 3-tägigen Yoga-Wirwaschenunserewäscheuntenamfluss-Workshop gelandet. Das Konzept war wohl, dass man schwitzen, atmen und grenzdebil lächeln sollte und die Wut am Eingang abgegeben werden musste. Und so schwitzten wildfremde, hippe, Kleidergröße 32 Mädels auf meine Billo-Yogamatte. Wenn’s richtig schlecht lief, musste man sich auch noch gegenseitig anfassen. In den Pausen traf sich der Inner Circle zum gemeinsamen Fleisch- und Milchkonsumentenbashing. Ich war Tage lang besessen von dem Gedanken an ein Wiener Schnitzel. Den 2. Abend verbrachte ich ALLEIN in einem spanischen Restaurant, bestellte 80 Sorten Tapas und ne Flasche Rotwein, was das Atmen und Schwitzen am nächsten Tag insofern erschwerte, als dass ich eigentlich nur noch damit beschäftigt war, nicht auf die Matte zu kotzen.



Wir sind mittlerweile Kumpels, die Wut und ich. Die Wut ist der Türsteher des Depressionsclubs. Und wenn der mal nicht so genau aufpasst, dann bin ich mitten drin in dieser dreckigen “Hier komm ich nie wieder bei klarem Verstand raus Berghainscheiße“.


Klar, bisschen Take That- Never Forget hören und romantisch, melancholisch traurig sein is schon wichtig und n bisschen geil, aber Berghain, das ist ne andere Liga. We’re not invincible…


 

Über die Autorin



Alter: Meine Mutter sagt 41

Neigt zu: Hypochondrie, Depressionen, Prokrastination

guilty pleasures: Verehrt Queen Elisabeth, trinkt Whisky auch manchmal mit Cola

Kann nicht verzichten auf: Trüffel, Whisky ohne Cola, Streusel ohne Kuchen, Musik, Ehemann und Tochter

Was andere sagen:Könntest auch erstmal guten Tag sagen, bevor du mir in die Fresse haust. Unnötigstes Talent: Kann nach einem Satz jede Folge Alf erraten.


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