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1,5 Meter Freiheit

Ungläubig stehe ich zu Beginn der Pandemie im Supermarkt vor ordentlich

auf den Boden geklebtem Social Distancing Tape.

Ich hab nachgeschaut. So nennt Amazon das. “Bitte 1,5m Abstand halten“ steht da drauf.

Gar kein Problem.

Sehr gerne.

Tränen steigen mir in die Augen.

Leute wie ich haben eine ganz kurze Tränenpipeline.


„ Herr Rewe", flehe ich innerlich: "Kann das bitte immer so bleiben? Und vielen Dank, ich kaufe gerne wieder hier ein!“ Gleichzeitig ahne ich, dass die meisten Menschen in dem Laden jetzt große Schwierigkeiten haben, weil ihnen das unkontrollierte "Anderen in den Nacken atmen" oder wahlweise

"mit dem Wagen in den Hacken kacheln“ nun offiziell verboten wurde.


Ich fühle mich als hätte ich den Superbowl gewonnen. Oder vielleicht doch eher so wie sich meine Tochter fühlt, wenn sie bei ihrer Oma Buletten essen durfte und ich als ordentliche Vegetarierin nichts dagegen tun kann. Wenn Oma das erlaubt, dann darf sie das.


The Supremes trällern niedlich pathetisch: “Stop in the Name of Love!“ durch meine Kopfhörer.

Ohne Musik kann ich nicht einkaufen gehen.

Und sowieso nie am Wochenende.

Unter der Woche sneaken mit ein bisschen Glück nur Einzelkämpfer durch die Gänge.

Die kriegen dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit narkoleptische Anfälle genau vor der scheiß Butter, die ich unbedingt einkaufen muss, oder dann eben doch nicht mehr einkaufen kann.

Dann eben keine Butter für den Rest der Woche. Für die aber auch nich. Wenn sie nämlich wieder aufwachen vor dem Regal, fällt ihnen ein, dass sie gar keine Butter essen, sondern Margarine.

Richtige Margarinemenschen sind das. Pfui Spinne.

Am Wochenende kommen sie im Rudel. Mutti, Vati und 1,57 quengelnde Kinder.

Da kann ich auch mit Musik nicht mal mehr regelmäßig ein- und ausatmen, geschweige denn den Einkaufszettel abarbeiten.

Es fühlt sich an, als würde mich das alles anspringen und an mir kleben bleiben.

Muttis abfällige Bemerkungen gegenüber Vati, der ihrer Meinung nach zu blöd ist, die richtige Wurst zu finden. Vati der spätestens nach 5 Minuten ohne es zu ahnen mieses Karma weitergibt und die Kinder anpöbelt: „Jetzt reicht‘s aber, hör uff hab ick jesacht. Komm HIER her! Du kriegst sonst kein Eis, Chips und all die andere Scheiße mit der wir dich belohnen, wenn du ordentlich spurst.“

Die spuren nicht, denk‘ ich. Na sowas. Warum auch? Hast du dir mal zugehört? Nee. Ich aber!

Und das vergesse ich jetzt den ganzen Tag lang nicht mehr. Weil es verdammt nochmal an mir kleben bleibt. Adoptieren möchte ich die jetzt, deine kleinen Anarchisten.

Die Armen. Ganz bald werden die auch so wie du.

Tränenpipeline: go. Schnaps müsste ich dann noch kaufen.

Wein reicht nicht nach einem Wochenendeinkauf.


Manfred und Anita diskutieren in einer Ernsthaftigkeit als ginge es um den Erwerb einer nigelnagelneuen Einbauküche, welche Taschentücher zu kaufen sind:

"Hier bei denen könnte man 19 Cent sparen" Oder doch nicht? "Die sehen aber besser aus."

Jesus, was planen die in 37 Jahren mit all dem Ersparten?

Einbauküche wahrscheinlich. Ich will mich das nicht fragen. Das fucking Problem ist aber: ich muss!




Hab oft darüber nachgedacht, ob es mit System of a down gehen könnte. Oder ironisch vielleicht mit Metallica. Vermute aber, dass ich dann was ganz Komisches ausstrahle.

Dann spüren die meine Überlegenheit und fahren noch ganz andere Geschütze auf.

Vielleicht würden sie mich sogar ansprechen. Das kann ich nicht riskieren.

Also Einkaufen nur unter der Woche, kurz vor 22 Uhr oder gar nicht.

Da kaufen nur die Dorfkids ein. Die, die auf dem Reweparkplatz wohnen. Die scheinen noch irgendwas zu fühlen. Sonst müssten sie nicht so viel bunten Fusel kaufen.

Die mag ich, also die Kids. Wenn ich jemand wäre, der Andere anfassen kann, dann würde ich die knuddeln, ihnen Mut zusprechen und ins Ohr flüstern, dass sie ganz schnell abhauen sollen aus dieser Matrix. Oder wenigstens Nirvana hören.

Mach ich natürlich nicht, weil ich nie Leute anspreche.

Nicht mal welche die ich kenne.



Auch nicht den Eisverkäufer.

Das muss mein Mann machen.

„Weisst ja was ich nehme und dass ich das nicht kann.“ Weiß er.


Dann fühl ich mich immer wie jemand der im Rollstuhl sitzt und einen Zivi braucht, wenn er auch mal zum Konzert gehen will, weil er alleine nicht die Rampen rauf und runterkommt.


Psychokloppi denk ich dann über mich selbst und bin dankbar für mein Eis und meinen Zivi.

Selig betrachte ich meinen 1,5 Meter- Freiheitsaufkleber.

Mitnehmen möchte ich den. Mich darin einwickeln.

Zum ersten Mal in meinem Leben ist Außen alles wie Innen.

Keine kräftezehrenden Verabredungen, keine Betriebsweihnachtsfeier, keine Elternsprechstunden, keine Pärchenabende (Mein Computer kennt dieses Wort nicht. Musste ich ihm jetzt unnötiger Weise beibringen.): “Ihr wisst ja Leude, leider nur EINE Person aus einem anderen Haushalt. Schade. Nächstes Jahr dann wieder“.


Als hätte man dem Linkshänder zum ersten Mal das Besteck richtig herum hingelegt.

Im selben Moment wird er wieder dicker, der Kloß im Hals.

Das alles hat irgendwann ein Ende.

Irgendwann ist alles wieder verkehrt herum.

Jedenfalls für mich.



 

Über die Autorin

Born and living in fucking Brandenburg Alter: Meine Mutter sagt 41 Neigt zu: Hypochondrie, Depressionen, Prokrastination guilty pleasures: Verehrt Queen Elisabeth, trinkt Whisky auch manchmal mit Cola Kann nicht verzichten auf: Trüffel, Whisky ohne Cola, Streusel ohne Kuchen, Musik, Ehemann und Tochter Was andere sagen: Könntest auch erstmal guten Tag sagen, bevor du mir in die Fresse haust. Unnötigstes Talent: Kann nach einem Satz jede Folge Alf erraten.


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